Mindestlohnanhebung für Pflegerinnen und Pfleger – gerechtfertigt, notwendig, ABER…?!

In einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 5. September 2014 heißt es: „Am gestrigen 4. September hat sich die Pflegekommission auf höhere Mindestlöhne für Beschäftigte in der Pflege geeinigt: Ab 1. Januar 2015 soll der Mindestlohn auf 9,40 Euro pro Stunde im Westen und 8,65 Euro im Osten steigen. In zwei Schritten soll er bis Januar 2017 weiter wachsen und dann 10,20 Euro pro Stunde im Westen und 9,50 Euro im Osten betragen. Ab 1. Oktober 2015 soll zudem der Kreis derer, für die der Pflegemindestlohn gilt, deutlich ausgeweitet werden: Dann sollen zusätzlich auch die in Pflegebetrieben beschäftigten Betreuungskräfte von dementen Personen, Alltagsbegleiterinnen und -begleiter sowie Assistenzkräfte vom Mindestlohn profitieren.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles wörtlich: „Es ist gut, dass sich die Pflegekommission auf höhere Mindestlöhne geeinigt hat. Pflege ist kein Beruf wie jeder andere, auch und gerade hier brauchen wir gute Löhne für die Beschäftigten. Der Pflegebedarf wächst, und hochwertige, qualifizierte Pflege braucht motiviertes Fachpersonal. Der Pflegemindestlohn ist ein Beitrag zur Qualitätssicherung und schafft faire Wettbewerbsbedingungen für die Einrichtungen“

Wie recht sie doch hat. Ja, der Pflegeberuf erfordert hochwertige Arbeit und stellt eine verantwortungsvolle Tätigkeit dar. Und hier gehe ich einen Schritt weiter. Auch im Rahmen der Persönlichen Assistenz verrichten die Assistentinnen und Assistenten eine überaus verantwortungsvolle Tätigkeit. Und hier ist diese Anhebung des Mindestlohnes mehr als gerechtfertigt und notwendig!!! Aber in der Pressemittteilung des BMAS liest man auch: „In Einrichtungen, die unter den Pflegemindestlohn fallen, arbeiten derzeit rund 780.000 Beschäftigte. Dort, wo der spezielle Pflegemindestlohn nicht gilt (zum Beispiel in Privathaushalten), wird ab 1. Januar 2015 der allgemeine gesetzliche Mindestlohn gelten. Er ergänzt den besonderen Mindestlohn im Bereich der ambulanten, teilstationären oder stationäre Pflege.“

So ist das also: In Privathaushalten, und zu denen zählen behinderte Arbeitgeber, die ihre Assistentinnen und Assistenten selbst angestellt haben, gilt lediglich der allgemeine gesetzliche Mindestlohn von gerade einmal 8,50 €. Der spezielle Pflege-Mindestlohn gilt in Privathaushalten erst ab 1. Oktober 2015. Hier spielt das BMAS den Kostenträgern in die Hände. Und das merken die Berater und die Antragsteller für Persönliche Assistenz jeden Tag und jede Woche mehr und mehr. Immer öfters verweisen die Kostenträger auf den gesetzlichen Mindestlohn. Haben sich die Sachbearbeiter, die am Schreibtisch über unser selbstbestimmtes Leben entscheiden, einmal gefragt, welche Assistenten für 8,50 € pro Stunde (Brutto) so eine verantwortungsvolle Tätigkeit annehmen, geschweige denn sich überhaupt auf eine etwaige Anzeige bewerben? Allzu oft haben diese Assistentinnen und Assistenten nicht mal eine Vollzeitstelle, weil der Kostenträger neben dem unzureichenden Lohn nicht den Zeitbedarf des Menschen mit Assistenzbedarf deckt. In einer aktuellen Beratung musste ich feststellen, dass das Sozialamt gerade eine ganze Stunde täglich als Eingliederungshilfe für die Teilhabe am Leben an der Gemeinschaft finanzieren möchte. Und wer sagte einst: „Lieber Arbeit finanzieren als Arbeitslosigkeit!“ Genau, die SPD! Die Partei, der Andrea Nahles angehört. Aber hier handelt sie offensichtlich nach dem alten Adenauer-Zitat: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern!“

Was ist hier also zu tun?

Die Vereine zur Unterstützung von Menschen mit Assistenzbedarf fordern seit Jahren, dass durch die Kostenträger mindestens ein Lohn für die Assistentinnen und Assistenten anerkannt wird, der sich am unteren Ende des Tarifs im öffentlichen Dienst (TVöD) für Pflegehilfskräfte orientiert. Und seit Jahren verweigern die Kostenträger, allen voran die Sozialhilfeträger, einen bedarfsdeckenden Lohn für die Assistenzkräfte. Die Vereine zur Unterstützung von Menschen mit Assistenzbedarf sind der Auffassung, dass auch ein Lohn, von dem die Assistentinnen und Assistenten leben können, zwingend zum Bedarf des Menschen mit Assistenzbedarf gehört. Denn den AssistenznehmerInnen ist es in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels kaum noch möglich, geeignete Assistenzkräfte zu finden. Wenn zusätzlich zeitweise Bedarfe nicht gedeckt werden, bspw. Wartezeiten zwischen den Einzelbedarfen, erhalten die Assistentinnen und Assistenten schlussendlich einen Lohn, für den es sich kaum noch lohnt zu arbeiten. Ein potentieller Arbeitnehmer muss viel Idealismus mitbringen, wenn er sich für solch eine verantwortungsvolle Tätigkeit bewerben möchte.

Meist müssen diese angemessenen Löhne über langfristige Gerichtsverfahren durchgesetzt werden. So hat bereits im Jahr 2010 das Landessozialgericht Niedersachsen/Bremen in der Begründung zum Urteil (Az: S 53 SO 57/05) festgestellt: „Ein Pflegebedürftiger, der sich wie der Kläger zur Sicherstellung seines pflegerischen Bedarfs für das sogenannte Arbeitgebermodell entschieden hat, kann nicht darauf beschränkt werden, seinen „Arbeitnehmern“ stets nur den tariflichen Lohn zukommen zu lassen.“ Nach Meinung vieler Fachleute ist es unbedingt notwendig, dass die Kostenträger sich auch an der allgemeinen Lohnentwicklung orientieren. Diese hier geforderte Verfahrensweise ist für die vor allem notwendige existenzielle Bedarfsdeckung behinderter Menschen zwingend geboten.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Bundesteilhabegesetzes muss mit Nachdruck – auch von den Vereinen und Organisationen zur Unterstützung von Menschen mit Assistenzbedarf – darauf gedrängt werden, dass in einem zukünftigen bundeseinheitlichen Bedarfsfeststellungsverfahren Assistentinnen und Assistenten einen Lohn erhalten, der als angemessen anzusehen ist und außerdem die Bedarfsdeckung in allen Belangen berücksichtigt.

Damit dies gelingt, sollte der Deutsche  Gewerkschaftsbund oder Verdi als Einzelgewerkschaft (DGB) bei all diesen Fragen in die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes einbezogen werden. Spätestens mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes und einer bundeseinheitlichen Bedarfsermittlung darf es nicht mehr vorkommen, dass sich Menschen mit Assistenzbedarf einem Verfahren aussetzen müssen, welches eher dem Feilschen auf einem orientalischen Basar als einer sach- und bedarfsgerechten Ermittlung der notwendigen Hilfen gleicht.

Jens Merkel
Oktober 2014

Mindestlohnanhebung für Pflegerinnen und Pfleger – gerechtfertigt, notwendig, ABER…?!