Berliner Erklärung

Für Menschen mit Behinderungen ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) mit viel Hoffnung verbunden, insbesondere der Hoffnung, dass sich ihre Lebenssituation verbessert und damit dem allgemeinen Lebensstandard angleicht. Diese Jahrzehnte alte Forderung nach voller und wirksamer sowie gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft muss jetzt endlich mit Leben gefüllt werden. Dabei enthält die UN-BRK keine neuen Rechte für die betroffenen Menschen, sondern formuliert lediglich Menschenrechte aus Sicht von Menschen mit Behinderungen. Eine Umsetzung dieser Menschenrechte, dieser sonst für Menschen ohne Behinderung selbstverständlichen Teilhaberechte, hätte deshalb schon seit einigen Jahrzehnten von staatlicher Seite auf allen Ebenen erfolgen müssen. Vielen Menschen mit Assistenzbedarf werden jedoch ebenso seit Jahrzehnten diese Rechte vorenthalten oder aus Finanzierungsgründen nur eingeschränkt zugestanden. Es ist beschämend, dass bereits vor 42 Jahren ein Entschließungsantrag im Bundestag (Bundesdrucksache 7/553) vorgebracht wurde, dessen Inhalt vom für Deutschland zuständigen UN-Fachausschuss im April dieses Jahres immer noch eingefordert werden muss!

Wir fordern deshalb von der Bundesregierung, allen Landesregierungen, sowie von den Städten und Gemeinden, aber auch von allen am Gesetzgebungsverfahren, sowie an der Rechtsprechung Beteiligten im Sinne der vom UN-Fachausschuss vorgebrachten Kritik unverzüglich zu handeln und insbesondere folgende Eckpunkte noch in dieser Legislatur umzusetzen:

  1. Die volle und wirksame Teilhabe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen an der Gesellschaft ist das Fundament eines diskriminierungsfreien inklusiven Staates, sowie eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern.
    Dieses Teilhaberecht ist ein Menschenrecht, das sich an der Lebenssituation von Menschen ohne Behinderung in vergleichbaren wirtschaftlichen, persönlichen und sozialen Verhältnissen orientieren und den gleichen Lebensstandard für Menschen mit Behinderung ermöglichen muss. Damit muss es möglich sein, alle Aspekte des Lebens leben zu können. So ist z.B. das Leben in einer Partnerschaft oder die Gründung einer Familie ein grundlegendes Bedürfnis, dessen Erfüllung derzeit Menschen mit Assistenzbedarf durch Anrechnung von Einkommen und Vermögen praktisch verwehrt wird.
    Diese Forderung leitet sich insbesondere aus Artikel 28 UN-BRK ab und wird unterstrichen durch den UN-Fachausschuss, siehe Punkte 51 und 52.
  2. Alle Rechtsnormen und Richtlinien sowie Verwaltungsanweisungen müssen im Einklang mit der UN-BRK stehen. Die Reform der Eingliederungshilfe kann deshalb nur ein Teilaspekt im Rahmen der anstehenden Harmonisierung sein. Alle anderen Unterstützungsleistungen, die unmittelbar mit der Behinderung oder chronischen Erkrankung zusammenhängen, müssen ebenfalls vom Fürsorgesystem abgekoppelt, vollumfänglich reformiert und dabei mit der UN-BRK harmonisiert werden. Insbesondere muss jetzt die Hilfe zur Pflege als Teilaspekt der Persönlichen Assistenz aus dem Fürsorgesystem herausgelöst werden, denn Persönliche Assistenz ist eine in der UN-BRK aufgeführte Unterstützungsleistung.
    Diese Forderung leitet sich insbesondere aus Artikel 1-4 und 19 UN-BRK ab und wird unterstrichen durch den UN-Fachausschuss, siehe Punkte 12 und 42.
  3. Behinderungsbedingte Bedarfe sind individuell zu ermitteln und vollumfänglich zu decken und dürfen nicht durch unzureichende oder pauschalierte Leistungsbemessungen untergraben werden.
    Um den erforderlichen, behinderungsbedingten Bedürfnissen wirksam und in vollem Umfang gerecht werden zu können, müssen die Verfahren zur Bedarfsermittlung und Leistungsbewilligung so gestaltet werden, dass die benötigten Teilhabeleistungen unverzüglich einsetzen. Bei befristeten Leistungsbewilligungen ist eine kontinuierliche Leistungserbringung über den Bewilligungszeitraum hinaus bis zur endgültigen Entscheidung über die Anschlussbewilligung sicherzustellen. Die Stärkung unabhängiger Beratung, aber auch die Schulung staatlicher Bediensteter bei den Kostenträgern sowie Amtsträgern und Richtern, muss voran getrieben werden.
    Diese Forderung leitet sich insbesondere aus den Artikeln 5 und 8 UN-BRK ab und wird unterstrichen durch den UN-Fachausschuss, siehe Punkte 13, 14, 19 und 20.
  4. Persönliche Assistenz in allen benötigten Gestaltungsformen muss als Unterstützung sowohl in der Stadt als auch auf dem Land möglich sein.Der Aufbau und Erhalt flächendeckender Dienste und Strukturen zur Unterstützung selbstbestimmten Lebens ist aktiv zu fördern. Dazu gehört die Elternassistenz genauso wie die Arbeitsassistenz oder andere Formen der personellen Unterstützung. Als Unterstützungsform zur Erlangung der Teilhabe sind dabei alle Bereiche des Lebens zu berücksichtigen. Hilfestellungen bei der Arbeit sind ebenso notwendig wie bei der Gestaltung von Freizeit, Urlaub, aber auch bei der Erziehung von Kindern. Ebenso darf auch keine Diskriminierung aus diesem Bedarf entstehen. Partner oder Kinder von Menschen mit Behinderung dürfen nicht auf staatliche Anordnung zur Deckung des behinderungsbedingten Bedarfes des Partners oder der Eltern herangezogen werden, weder personell als Assistenten noch finanziell.
    Diese Forderung leitet sich insbesondere aus den Artikeln 1-4, 19 und 23 UN-BRK ab und wird unterstrichen durch den UN-Fachausschuss, siehe Punkte 10, 41, 42, 43 und 44.
  5. Die konsequente Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechts gerade auch hinsichtlich Wohnort und -form ist unabdingbar! Bestehende Kostenvorbehalte, insbesondere in den §§ 9 Abs. 2 SGB XII und 13 SGB XII müssen endgültig gestrichen werden.
    Diese Forderung leitet sich insbesondere aus Artikel 19 UN-BRK ab und wird unterstrichen durch den UN-Fachausschuss, siehe Punkte 41 und 42.

Wir fordern aber auch alle Menschen mit Behinderungen auf, ihren Teil zum Gelingen dieser gesellschaftlichen Neuausrichtung beizutragen und mitzuhelfen, wo immer es ihnen möglich ist. Das kann im näheren Umfeld möglich sein, in der Beratung von anderen ähnlich betroffenen Menschen oder in der aktiven politischen Arbeit.

Wir verweisen abschließend auf die Kölner Resolution des Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben Nordrhein-Westfalen (KSL) von Anfang Mai 2015 und unterstützen diese ausdrücklich.

Wir sind davon überzeugt, dass Inklusion nur dann gelingt, wenn alle in der Gesellschaft gewillt sind, diesen Prozess vollumfänglich und schnellstmöglich umzusetzen. Die Umsetzung eines Teilhaberechtes unter Kostenvorbehalt hingegen beschneidet Menschenrechte und bedeutet Diskriminierung!

Berlin, 22. Mai 2015

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