Das Bundesteilhabegesetz – Anforderungen aus Sicht des Bundes

Vortrag Marc Nellen, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Leiter der Projektgruppe „Bundesteilhabegesetz

Vortrag Marc Nellen (BMAS)

Vortrag Marc Nellen (BMAS)

Präsentation Marc Nellen (BMAS)

Präsentation Marc Nellen (BMAS)

Nachfolgend stichpunktartig die wichtigsten Aussagen, Publikumsfragen und Antworten zum Vortrag. Es handelt sich hierbei um ein Gedächtnisprotokoll, sodass der Vortragende und die Teilnehmerfragen ggf. nicht immer absolut detailgetreu widergegeben wurden.

Wir empfehlen die Präsentation und die Anmerkungen „parallel“ zu lesen.


Allgemeine Aussagen zu Beginn, Inhalt des Vortrags

  • sprechen mit vielen Personen
  • haben ein offenes Ohr für die Belange behinderter Menschen nicht nur über die AG Bundesteilhabegesetz
  • werde ihnen darstellen, was denkbar ist, was aber noch nicht abgestimmte Hausmeinung ist
  • Ausführungen eines Referenten bzw. Referatsleiters zu möglichen Regelungsinhalten
  • Aussagen nur an der Person von Herrn Nellen festzumachen, jedoch noch nicht an der Ministerin oder Staatssekretärin

Systeme und Zuständigkeiten

Seite 5 der Präsentation

  • Änderungen haben Folgewirkungen in mindestens drei anderen Systemen (z.B. bei den Schnittstellen zu SGB V und SGB XI)
  • es gibt starke Abwehrhaltungen „Bitte nicht zu Lasten meines Systems“
  • haben mit diesen Abwehrhaltungen sehr zu kämpfen
  • „Inklusive Lösung“ neue Bezeichnung für „Große Lösung“ aus dem Bundesfamilienministerium
  • BMAS unterstützt Bundesfamilienministerium bei seinem Vorhaben, das voraussichtlich in zwei getrennte Gesetzgebungsverfahren betrieben wird
  • es wird in Kürze konkrete Vorschläge geben

Einordnung der Reform

Seite 6 der Präsentation

  • Bundesteilhabegesetz wird ein Artikelgesetz werden
  • Änderungen in den skizzierten anderen Gesetzen, siehe Seite 5 der Präsentation
  • Verbesserungen bei der Lebenssituation von behinderten Menschen zu erreichen, wird ein Prozess sein. Möglicherweise kann nicht alles mit dem Bundesteilhabegesetz erreicht werden. Änderungen in Folgegesetzen sind denkbar.
  • „In manchen Bereichen können wir Dinge erreichen, die wirklich Meilensteine sind.“

Ausgaben der Eingliederungshilfe – Entwicklung

Seite 10 der Präsentation

  • Ausgaben der Eingliederungshilfe seit 2004 deutlich stärker gestiegen, als die Ausgaben der Sozialversicherung insgesamt
  • Ausgaben vorrangiger Leistungssysteme sind weniger stark gestiegen
  • daher sollen mit dem Bundesteilhabegesetz die Sozialversicherungen stärker in die Pflicht genommen werden
  • rhetorische Publikumsfrage
    • Steigerung der Eingliederungshilfeausgaben (31% in 8 Jahre) entspricht ca. der aufsummierten Preissteigerung. Kann man angesichts dieser Zahlen wirklich sagen, dass die Eingliederungshilfeausgaben davon laufen?
  • Antwort
    • Zwei Komponenten: Entwicklung der Fallzahlen und Fallkosten
    • bei Fallkosten sogar eine Entwicklung, die unter der Preissteigerung liegt
    • Großteil der Kostensteigerung begründet durch die demographische und historische Entwicklung
    • Stichpunkt 3. Reich / Euthanasie
    • Empfehlung: Artikel des Deutschen Landkreistags über die Verantwortung der Kommunen bzgl. der Euthanasieverbrechen.
    • Nellen: Es gibt kein Kostenproblem bzgl. der Fallkosten.

Ausgabenblöcke der Eingliederungshilfe

Seite 12 der Präsentation

  • Ausgaben in Einrichtungen immer deutlich höher, als außerhalb von Einrichtungen

Ausgaben – Prognose

Seite 14 der Präsentation

  • die 5 Mrd. Euro (prognostizierte Ausgabensteigerung lt. con_sens-Studie von 16,5 auf 21,6 Mrd. Euro im Zeitraum 2012 – 2020) entsprechen genau den 5 Mrd. Euro, die den Kommunen versprochen wurden
  • d.h. diese 5 Mrd. Euro werden bereits durch die Fallzahlzunahme aufgezehrt
  • daher schwierige Argumentation für Leistungsverbesserungen

Ziele des Bundesteilhabegesetzes

Seite 15 der Präsentation

  • Ziele des Bundesteilhabegesetzes
    • Verbesserung der Selbstbestimmung
    • Umsetzung der UN-BRK
    • Brechen der Ausgabendynamik
  • können Ausgabendynamik nicht rückgängig machen
  • können Ausgabendynamik nicht stoppen
  • können aber versuchen, Ausgabendynamik zu bremsen

Mögliche Regelungsinhalte

Seite 16 der Präsentation

  1. Konzentration auf die Fachleistung
    1. existenzsichernde Leistungen sollen künftig über die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erbracht werden, Fachleistungen von der Eingliederungshilfe
    2. hat einen fiskalischen Effekt, da die existenzsichernden Leistungen vom Bund bezahlt werden
    3. dadurch werden Kommunen Spielräume eingeräumt
    4. Insbesondere ca. 230 Mio. Euro (geschätzt) durch Wegfall der Barbeträge im 3. Kapitel SGB XII
  2. Personenzentrierte Leistungsgewährung
  3. Leistungskatalog zur sozialen Teilhabe (u.a. Assistenzleistungen)
    1. Leistungen zur Sozialen Teilhabe sollen in einem weiteren Kapitel verankert werden
    2. Überlegungen zur Schaffung eines eigenen Tatbestands Assistenz
    3. Ausgestaltung wird erarbeitet, ebenso Definition
  4. Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben:
    1. Budget für Arbeit ein zentrales Element
    2. angedacht wird ein bundeseinheitliches Modell:
    3. Budget für Arbeit könnte aus zwei Teilen bestehen
      1. Nachteilsausgleich an den Arbeitgeber (Lohnzuschuss), offen, ob dauerhaft oder befristet
      2. Praxisanleitung/Assistenz
    4. dritte Komponente wird diskutiert
      1. Prämien an Arbeitgeber, die wesentlich behinderte Menschen einstellen
      2. Problem: Mitnahmeeffekte
  5. Anpassungen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen
    1. Zitat der Bundeskanzlerin beim Empfang der Bundesbehindertenbeauftragten: „Wir werden das Thema unter die Lupe nehmen.“
    2. vollständige Abschaffung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen wird es nicht geben
    3. BMAS-Vorüberlegungen
      1. Privilegierung bestimmter Einkommensarten (Stichwort Erwerbseinkommen)
      2. Einkommensgrenzen angemessen erhöhen
      3. behandelt werden sollen auch die Themen Partnerschaft, Elternunterhalt und Kinderunterhalt
      4. ganzer Einkommens- und Vermögensbereich aus der jetzigen Führsorgethematik herausholen
      5. mögliches Szenario:
        1. Definition eines Grundfreibetrags und einer Obergrenze X
        2. In der Spanne von Grundfreibetrag zum Betrag X gibt es einen Eigenbeitrag als Prozentsatz (z.B. 40% – 60%)
        3. über Obergrenze X deutlich höherer Eigenbeitrag
        4. ggf. Privilegierung von Erwerbseinkommen
    4. geprüft werden Verfahrensvereinfachungen, um das „Blankmachen vor dem Sozialamt“ zu verhindern
  6. Stärkung der Steuerungsmöglichkeiten der Leistungsträger gegenüber den Leistungserbringern
    1. geprüft werden Änderungen im Vertragsrecht (Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung, ggf. Vergütungskürzungen bei Schlechtleistung)
  7. Unabhängige Beratung
    1. geprüft werden Modelle, die nachfrageseitig (Anspruch an Betroffene) und angebotsseitig (Schaffung eines unabhängigen Beratungsangebotes) ansetzen
    2. am 23. Juni 2015 findet im BMAS ein Fachgespräch zur Unabhängigen Beratung statt, in dem mögliche Beratungsmodelle diskutiert werden

Publikumsfragen

Die nachfolgenden Publikumsfragen wurden zum leichteren Verständnis aus den Stichpunkten sinngemäß ausformuliert.

UN-BRK / Menschenrechte

„Sie haben gesagt, dass die Einkommens- und Vermögensanrechnung nicht ganz abgeschafft wird. Nun hat aber der UN-Fachausschuss gesagt, dass gerade im Bereich der Selbstbestimmung nicht das Einkommen und Vermögen herangezogen werden soll. Wie stellt sich ihr Haus das vor?“

„Es handelt sich ja um Menschenrechte, keine zusätzlichen Rechte. Die Einkommens- und Vermögensanrechnung verhindert Partnerschaft, da der Partner finanziell und personell herangezogen wird. Da möchte ich doch bitteschön dieses Menschenrecht auch beanspruchen.“

„Die Law-Clinic-Studie zur Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit besagt, dass die Einkommens- und Vermögensanrechnung gegen das Grundgesetz und menschenrechtliche Normen verstößt. Das geht in die Richtung der UN-Fachausschuss-Empfehlungen. Es ist eine Ungerechtigkeit, wenn ein Mensch mit Behinderung zahlen muss, auch wenn er nicht arm dadurch wird. Wie gehen sie damit in ihrem Haus um?“

Antworten:

  • kennt die Argumentation derjenigen, die in der Einkommens- und Vermögensanrechnung einen Widerspruch zur UN-BRK sehen
  • ob aus der UN-BRK unmittelbar Leistungsansprüche erwachsen, hängt vom spezifischen Anwendungskontext ab und kann daher nicht pauschal beantwortet werden (entsprechend haben sich auch die Sozialgerichte einschl. BSG in verschiedenen Urteilen schon geäußert)
  • Bundesregierung sieht keinen Widerspruch der derzeitigen Regelungen zum Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe zur UN-BRK
  • Auch keine mittelbare Benachteiligung, da UN-BRK die rechtliche, aber nicht soziale Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vorsieht. Im Übrigen gilt für mögliche Rechtsänderungen aufgrund der UN-BRK der Progressionsvorbehalt: Rechte sind erst nach und unter Ausschöpfung der verfügbaren finanziellen Mittel umzusetzen.

Einkommensanrechnung

„Das Stufenmodell mit einem Eigenbetrag von 40% oder 60% ist doch überhaupt keine Verbesserung. Wir haben doch jetzt schon bei der Pflegestufe III eine Begrenzung auf 40%.“

Antworten:

  • geprüft werden Verbesserungen zum Status quo
  • zum Stufenmodell gehört die weitere Überlegung, Erwerbseinkommen gegenüber anderen Einkommensarten zu privilegieren
  • ökonomisch gibt es zwei Arten von Einkommen: Erwerbseinkommen und Kapitaleinkommen
  • noch zu früh, um sich über konkrete Modellskizzen austauschen

Publikumszwischenfrage: „Gehört zum Erwerbseinkommen nur das Arbeitseinkommen oder aber auch eine (Erwerbsminderungs-)Rente?“

Antwort:

  • ist ein Detail, das auch geprüft wird

Vermögensanrechnung

„Gibt es Überlegungen, die Einkommens- von der Vermögensanrechnung zu trennen? Es wäre sehr schade, wenn die Einkommensanrechnung nicht vollständig abgeschafft wird, aber die Vermögensanrechnung sollte doch auf jeden Fall abgeschafft werden.“

Antworten:

  • haben es mit zwei Komponenten zu tun: Einkommen und Vermögen
  • müssen unterschiedlich behandelt werden
  • wenn man was beim Einkommen tut, dann muss man auch was beim Vermögen tun
  • beim Vermögen wird auch geprüft, den 2.600 €-Schonbetrag zu erhöhen, da die finanziellen Auswirkung überschaubar sind [vgl. Vortrag Dr. Arnade: 10 Mio. € pro 2.600 € Erhöhung]

Hilfe zur Pflege

„Es fehlt eine Aussage dazu, wie es aussieht, wenn Menschen Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege brauchen. Es besteht die große Gefahr, dass in der Eingliederungshilfe etwas verbessert wird, und anschließend bekommen wir ein neues Etikett, und da steht dann Pflegefall drauf, und alles bleibt bei den alten Regelungen.“

Antworten:

  • sehr schwieriges Problem
  • wird dennoch mitgedacht
  • Zahlen wurden schon genannt [vgl. Vortrag Dr. Arnade]
  • Schnittmenge derer, die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege bezieht, ist sehr niedrig (einstelliger Prozentsatz)
  • wenige Personen, die das betrifft, aber die, die es betrifft, die haben schwer darunter zu leiden
  • müssen verfassungskonform bleiben, keine Bevorzugung einzelner Gruppen
  • immense Kosten, wenn die Hilfe zur Pflege komplett einkommens- und vermögensfrei gestellt werden würden (Milliardenbereich)
  • anderes Modell denkbar, z.B. Bildung eines neuen Tatbestands Komplexleistung mit Assistenz, die dann möglicherweise nicht mehr in der Hilfe zur Pflege angesiedelt ist

Publikumsanmerkung: „Sie haben im Bezug auf die Hilfe zur Pflege gesagt, dass wir nicht einzelne Gruppen bevorzugen können. Stichwort ‚häusliche Krankenpflege’ (§ 43a SGB XI usw.). Ich möchte ihnen Mut machen, stark zu sein gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit. Weil, es ist faktisch eine Diskriminierung behinderter Menschen, wenn häusliche Krankenpflege nicht gewährt wird. In Art. 25 BRK steht ganz klar drin, dass Diskriminierung bei der Krankenversicherung – zu der auch die Pflegeversicherung dazu gehört – nicht zu tolerieren ist.“

Verortung des Bundesteilhabegesetzes im SGB IX / allgemeine Inhalte

„Ich möchte Sie bitten, das neue Recht im SGB IX zu verankern und nicht ein neues Sonderrecht zu schaffen. Da gibt es ja durchaus im BMAS andere Strömungen.“

„Was als allererstes vor das Artikelgesetz muss, ist eine klare Definition: Was sind Menschen mit Behinderungen? Was sind ihre Rechtsansprüche? Dort muss man formulieren, dass wir Assistenzansprüche in allen Bereichen des Lebens haben.“

Antworten:

  • Verortung im SGB IX: klares „Ja“
  • BMAS-Überlegungen
    • Eingliederungshilfe aus dem SGB XII herauszulösen und in das SGB IX verschieben
    • alle Leistungsansprüche (z.B. Assistenz/Pauschalierungen) in Artikel 1 oder in die Präambel des SGB IX zu schreiben geht vermutlich nicht, da dies erhebliche Auswirkungen auf die anderen Rehaträger hätte.
    • jedes System hat seine eigene Struktur, seine eigene Kostenträgerschaft, seine eigenen Folgen
    • Definition des Behinderungsbegriffs soll in den ersten Teil SGB IX
    • es wird eine Lösung geben, die im SGB IX stattfindet
    • mit der Eingliederungshilfe im SGB IX wird das SGB IX als Leistungsgesetz aufgewertet
    • eher unwahrscheinlich, dass leistungsrechtlich relevante Anspruchsvoraussetzungen in den 1. Teil SGB IX kommen

Bundesteilhabegeld, Bundesblinden-/-gehörlosengeld

„Bitte vergessen Sie in ihren Bemühungen nicht die sog. Pauschalleistungen, die gerade für sehbehinderte Menschen wichtig sind. Da haben wir sehr, sehr große Ungerechtigkeiten in Deutschland. Wir haben sehr unterschiedliche Beträge, z.B. beim Blindengeld, die eigentlich überhaupt nicht mehr abbilden, was man für einen Bedarf hat.“

Antworten:

  • im Moment steht es nicht gut um das Bundesteilhabegeld
  • teure Angelegenheit
  • selbst bei einem Selbstbehalt von 127 € führt dies zu Mehrkosten i.H.v. über 1 Mrd. Euro

Beteiligungsprozess / AG Bundesteilhabegesetz

„Inwiefern wurden sinnesbehinderte Menschen bzw. körper- und/oder geistig behinderte Menschen mit einer zusätzlichen Sinnesbehinderung berücksichtigt/beteiligt bei dem Beteiligungsprozess, und falls das bislang nicht geschehen ist, wie könnte man sich einbringen?“

„Es gibt eine Gruppe, die bei den Umsetzungsbemühungen zur UN-BRK deutlich benachteiligt ist. Das ist die Gruppe der Schwermehrfachbehinderten, vor allem auch mit geistiger Behinderung. Es ist sehr sinnvoll, mit dem SGB IX den umfassenden grundsätzlichen Ansatz zu machen, um individuelle Partizipation für die Angehörigen dieser Zielgruppe möglich zu machen.“

Antworten:

  • Entscheidung, wer behindertenseitig an der AG Bundesteilhabegesetz teilnimmt, wurde bewusst dem Deutschen Behindertenrat (DBR) überlassen
  • DBR-Vertreter haben mit 10 Vertretern die meisten gestellt
  • haben einige Post bekommen von Menschen, die sich da nicht hinreichend vertreten gefühlt haben
  • Empfehlung: Stellungnahmen, Forderungen und Positionspapiere an das BMAS schicken. Diese werden wahrgenommen und registriert.

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