Bericht zur Fachtagung der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zum Bundesteilhabegesetz

Am 16.01.2015 veranstalteten die Fachverbände für Menschen mit Behinderung eine Fachtagung zum geplanten Bundesteilhabegesetz in Berlin mit ca. 250 Teilnehmern. Die Fachtagung gliederte sich in drei Teile: Fachvorträge, Workshop und Podiumsdiskussion. Für NITSA e.V. nahm Harry Hieb an der Veranstaltung teil. Die Fachtagung bot auch die Gelegenheit, mit Fachpolitikern und Ministeriumsvertretern ins Gespräch zu kommen (siehe letztes Kapitel).

Fachvorträge

Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung konnten mit Herrn Dr. Schmachtenberg (federführender Abteilungsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Soziales im laufenden Gesetzgebungsverfahren zum Bundesteilhabegesetz), Kerstin Tack (behindertenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion) und Uwe Schummer (Beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Menschen mit Behinderungen) wichtige Akteure für die Veranstaltung gewinnen. Nachfolgend stichpunktartig die wichtigsten Aussagen der Redner. Es handelt sich hierbei um ein Gedächtnisprotokoll, sodass die Vortragenden ggf. nicht immer absolut detailgetreu widergegeben wurden.

Kerstin Tack: Eckpunkte der SPD zum Bundesteilhabegesetz

  • Es gibt noch einiges an Überzeugungsarbeit in den Fraktionen zu tun.
  • Kerstin Tack (SPD) und Uwe Schummer (CDU) stimmen in vielen Bereichen überein.
  • Ziel ist ein gemeinsames Eckpunktepapier von SPD und CDU zum Bundesteilhabegesetz. Ob das gelingt, ist noch offen.
  • Das Wunsch- und Wahlrecht hat sehr hohe Priorität.
  • Es müssen gleiche Lebenschancen überall in Deutschland existieren. Daher sind bundeseinheitliche Bedarfsermittlungskriterien unerlässlich.
  • Bedarfe stehen im Vordergrund und nicht das angewandte Verfahren.
  • Bei der Frage der Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit sind wir am leidenschaftlichsten.
  • Es kann nicht sein, dass jemand mit seinem Bedarf an Unterstützung in Armut leben muss.
  • Es darf nicht sein, dass der Partner mit eigenem Geld den Partner mit Unterstützungsbedarf unterstützen muss.
  • Die Frage des Schonvermögens wird daher eine Rolle spielen.
  • Die Veränderungen der Einkommens- und Vermögensanrechnung betreffen nur die Fachleistungen und nicht die existenzsichernden Leistungen.
  • Im ersten Schritt werde die Einkommens- und Vermögensanrechnung nicht komplett wegfallen können. Aber man werde sich in Schritten in diese Richtung und beim Thema Schonvermögen sehr deutlich bewegen.
  • Beim Thema Assistenz sind wir in Deutschland irgendwie altbacken.
  • Fragen, die sich hieraus ergeben: Wie wird Assistenz als Hilfsmittel anerkannt, und wenn ja, welche Arten und Formen der Assistenz?
  • Genauso wichtig Assistenz behinderter Eltern.
  • Es kann nicht sein, dass eine zu Familie haben daran scheitert, dass nicht genügend Unterstützung gewährt wird.
  • Schnittstellenproblematik, insbesondere die „große Lösung“.
  • Es gibt keine plausible Argumentation, die sagt, dass Kinder mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung anders gesehen werden müssen als Kinder mit einer emotionalen Behinderung.
  • Wir glauben, dass wir mit der Einführung der „großen Lösung“ ähnlich verfahren werden, wie beim Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, d.h. sie kommt nicht morgen sondern in ca. 3 Jahren.
  • Wir wollen einen inklusiven Arbeitsmarkt, der das Wunsch- und Wahlrecht achtet.
  • Es gibt aber einen großen Teil von Menschen, für die der beschützte Rahmen die beste Lösung ist.
  • Leistungen für inklusive Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt dürfen nicht mehr befristet sein.
  • Drei Säulen notwendig: Unterstützung des betroffenen Menschen, finanzielle Förderung des Arbeitgebers (Budget für Arbeit) und unmittelbare Ansprechbarkeit/Stelle bei Problemen des Arbeitgebers

Dr. Schmachtenberg: Das Bundesteilhabegesetz. Erste Konturen.

  • Im Koalitionsvertrag steht das Bundesteilhabegesetz nicht nur einmal, sondern 20 mal.
  • Das Bundesteilhabegesetz ist das wichtigste Vorhaben im Bereich der Sozialgesetzbücher.
  • Das Behindertengleichstellungsgesetz soll weiterentwickelt werden und damit die Partizipation der Verbände stärken.
  • Mit Verbände sind vor allem auch kleinere Verbände gemeint, die spezielle Behinderungsarten mit einbringen.
  • Bei vielen Sachverhalten wissen wir immer noch zu wenig.
  • Dankbar dafür, dass der Gesetzgeber so mutig ist und auch Gesetzgebung per Risiko macht.
  • Bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung müssen wir mit Schätzungen arbeiten.
  • Da können wir uns um einen zweistelligen Millionenbetrag verschätzt haben, denn wir haben keine Zahlen zu ambulant lebenden Menschen.
  • Am 15.01.2015 erste Sitzung der Steuerungsgruppe auf Abteilungsleiterebene der Bundesregierung, in der die Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans vorbereitet wird.
  • Der Nationale Aktionsplan soll zeitgleich mit dem Bundesteilhabegesetz im Kabinett beraten werden.
  • Die Staatenprüfung kommt. Dann werden wir eben gegrillt, vor allem im Bereich der inklusiven Bildung.
  • Bundesgleichstellungsgesetz mit folgenden Schwerpunktthemen bis März: Behinderungsbegriff, Frauen mit Behinderung, Benachteiligungsverbote, evtl. Normierung der sog. angemessenen Vorkehrungen, Schlichtungsverfahren und Verbändeklage.
  • Aus der Reform heraus soll es keine neue Ausgabendynamik geben.
  • Aber: Die Ausgabendynamik zu bremsen wäre schon eine Art der Gegenfinanzierung.
  • Es ist allgemeiner Konsens, dass mit der Reform keine neuen Gruppen hinzukommen sollen.
  • Vermutlich wird auch auf den Begriff der wesentlichen Behinderung verzichtet.
  • Es gilt, Menschen mit wesentlichen Teilhabebeschränkungen Leistungen zukommen zu lassen.
  • Konsens, dass Fach- von existenzsichernden Leistungen abgegrenzt werden.
  • Bedarfsermittlung und –feststellung wenn möglich bundeseinheitlich. Ziel ist es, dass dies über SGB IX Teil 1 kommt.
  • Bei der unabhängigen Beratung müssen wir was machen, wenn wir das Geld finden. Kosten schwanken je nach Modell zwischen 30 und 80 Mio. Euro. Fachlich hohe Übereinstimmung, dass wir eine Beratung unabhängig von den Leistungsträgern machen sollten.
  • Assistenzleistungen werden explizit im Gesetz stehen, aber als offener Leistungskatalog. Die Normierung der Assistenzleistungen spielt eine wichtige Rolle.
  • Bei der Herausführung der Fachleistungen aus der Sozialhilfe fachlich großer Konsens. Zu beachten ist die Gegenfinanzierung und die Ausstrahlung in die Hilfe zur Pflege.
  • Wir müssen konsequenterweise auch was im Bereich der Hilfe zur Pflege im Zusammenhang mit der Einkommens- und Vermögensanrechnung machen.
  • Pflegeleistungen insgesamt einkommens- und vermögensunabhängig zu machen, macht keinen Sinn. Das wäre eine Art Erbenprivileg.
  • BMFSFJ möchte Umsetzung der „großen Lösung“ und kommt zur nächsten Sitzung AG Bundesteilhabegesetz.
  • Im März werden alle Vorschläge finanziell bewertet und abgeschätzt sein. Inzwischen ist einiges zusammengekommen, das Mehrausgaben zur Folge hat. Alle Beteiligten werden nochmals gebeten, Vorschläge zur Gegenfinanzierung zu machen.
  • Mai/Juni kommt der Abschlussbericht der AG Bundesteilhabegesetz
  • Im Oktober soll der Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz fertig sein.
  • Anhörung zum Referentenentwurf bis zum Jahresende.
  • Mitte 2016 fertig mit dem Gesetz.
  • Es wird vermutlich einen langen Paragraphen/Artikel geben, der sagt, wann was in Kraft tritt. Irgendetwas wird auch schon zum 1.1.2017 in Kraft treten.

Uwe Schummer: Eckpunkte der CDU/CSU zum Bundesteilhabegesetz

  • Der Prozess und die Abstimmung zwischen den Fachpolitikern von CDU/CSU und SPD mit dem BMAS ist vorbildlich.
  • Wichtig, dass die Fachpolitiker mit einer Stimme reden.
  • Eckpunkte von Union und SPD sollen zusammengeführt werden.
  • Wir werden auch im Bundesrat eine klare Mehrheit brauchen.
  • Der erste Teil ist ein modernes Teilhaberecht, und daran angekoppelt ist die Entlastung der Kommunen.
  • Die politische Entscheidung muss in dieser Legislaturperiode getroffen werden.
  • Stärkung der Schwerbehindertenvertretungen in den Unternehmen.
  • Wir müssen mehr Optionen schaffen, und daher ist das auch kein Billigprozess.
  • Wie kann man den Bedarf bundesweit einheitlich messen?
  • Ein großes Thema ist Einkommen und Vermögen.
  • Die Einkommens- und Vermögensgrenzen sind seit 15 Jahren nicht mehr verändert worden. Dass da was passieren muss, ist offenkundig.
  • Das geht auch nicht wg. des besonderen Schutzes von Ehe und Familie in unserer Verfassung.
  • „Liebe geht mit Armut Hand in Hand“ ist unerträglich.
  • Einkommens- und Vermögensgrenzen müssen angepasst werden und dafür muss auch Geld mobilisiert werden.
  • Werkstätten leisten wichtige Arbeit. Wir wollen Entwicklung der Werkstätten. Wir brauchen mehr Brücken zwischen Werkstätten und erstem Arbeitsmarkt.
  • Einmal aus der Werkstatt immer aus der Werkstatt ist falsch. Es muss eine Durchlässigkeit geben.
  • Unabhängige Beratung ist ebenfalls wichtig. Die Servicestellen haben sich oftmals nicht bewährt.

Workshop

Insgesamt wurden sechs verschiedene Workshops angeboten. Harry Hieb meldete sich für den Workshop „Nachteilsausgleich statt Bedürftigkeitsprüfung: Fachleistungen ohne Einsatz von Einkommen und Vermögen“ an, über den nachfolgend stichpunktartig berichtet wird.

  • Es zeigte sich, dass viele Menschen aus unterschiedlichsten Gründen von der Einkommens- und Vermögensanrechnung betroffen sind. Insbesondere sind Menschen betroffen, die im Laufe ihres Erwerbslebens eine Behinderung bekommen.
  • Menschen mit psychischen Erkrankungen brechen oftmals Therapien ab, da sie mit Beginn der Therapie zum Einsatz ihres Einkommens und Vermögens gezwungen werden. Das ist fatal für die betroffenen Menschen.
  • Leistungen, die nur vorübergehend notwendig sind, sollten einkommens- und vermögensunabhängig sein.
  • Es wurde die Problematik des Vererbens von Eltern an ihr behindertes (erwachsenes) Kind thematisiert.
  • Vereinzelt wurde die Forderung aufgestellt, dass zunächst Eltern behinderter Kinder vollständig von der Einkommens- und Vermögensanrechnung ausgenommen werden sollen.
  • Dieser Auffassung wurde von selbst betroffenen Menschen widersprochen. Zunächst müssten diese mit den Eltern gleichziehen, d.h. mit max. monatlich 31,06 € zu ihren Assistenzkosten beitragen.
  • Sollte die Selbstbeteiligungsoption (z.B. 31,06 €) Realität werden, dann ist darauf zu achten, dass ALG II / Grundsicherungempfänger und WfbM-Beschäftigte hiervon ausgenommen werden.
  • Es wurde die Frage gestellt, ob wirklich jeder Fachleistungsempfänger von der Einkommens- und Vermögensanrechnung freigestellt werden sollte, also auch Millionäre?
  • Es wurde die Meinung vertreten, dass es hierbei um die gleichberechtigte Teilhabe mit anderen an der Gesellschaft geht. Daher muss auch ein Millionär Anspruch auf einkommens- und vermögensunabhängige Fachleistungen haben. Das schließt jedoch nicht aus, dass vermögende Menschen im Rahmen der Besteuerung stärker belastet werden könnten, denn die Teilhabe behinderter Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
  • Es herrschte Einigkeit, dass die Position der vollständigen Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung aufrechterhalten werden soll.

Podiumsdiskussion

Zum Abschluss fand eine Podiumsdiskussion zum Thema „Ausblick auf das kommende Gesetz“ mit den Vorsitzenden bzw. Vertretern der fünf Fachverbände statt. An dieser Stelle sei auf die Dokumentation zur Fachtagung verwiesen, die zeitnah auf der Website www.diefachverbaende.de der Fachverbände bei „Veranstaltungen“ zum Download bereitstehen wird.

Einzelgespräche am Rande der Fachtagung

In Vorbereitung auf die Fachtagung wurden mit Herrn Dr. Schmachtenberg, Kerstin Tack und Uwe Schummer Gespräche verabredet. Das Gespräch mit Frau Tack kam leider nicht zustande, da Frau Tack noch einen weiteren Termin hatte und der Veranstaltungsablauf nicht gänzlich eingehalten wurde.

Am Gespräch mit Herr Dr. Schmachtenberg nahm auch Herr Nellen (Projektleiter Bundesteilhabegesetz) teil. In dem mehr als einstündigen Gespräch konnten wichtige Detailfragen bzgl. Bundesteilhabegesetz und Assistenz erörtert werden. Dabei erhielt NITSA e.V. wertvolle Anregungen, wie der Prozess zum Bundesteilhabegesetz weiter begleitet werden kann.

Mit Herrn Schummer konnte ein erster persönlicher Kontakt hergestellt werden. Der Meinungsaustausch soll weitergeführt werden.

Download: Bericht zur Fachtagung als PDF