Podiumsdiskussion mit Dr. Harry Fuchs, Carl-Wilhelm Rößler, Dr. Oliver Tolmein und Ottmar Miles-Paul (Moderation)
Nachfolgend stichpunktartig die wichtigsten Aussagen der Podiumsteilnehmer. Es handelt sich hierbei um ein Gedächtnisprotokoll, sodass die Vortragenden ggf. nicht immer absolut detailgetreu wiedergegeben werden. Den Beitrag von Carl-Wilhelm Rößler haben wir in seinem Impulsreferat integriert.
Beitrag von Dr. Harry Fuchs
Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für die Entstehung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) – Anspruch und Realität
- Anspruch: Durcharbeiten der UN-BRK und Ableiten von Folgen für nationales Recht
- Realität: Politik beginnt mit Interessenslagen der Sozialhilfeträger (Länder und Gemeinden) und schaut dann, dass dabei nicht gegen die UN-BRK verstoßen wird.
- Das derzeitige Vorgehen entspricht nicht der Empfehlung des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum Staatenbericht, wonach „alle einschlägigen Rechtsvorschriften von einem unabhängigen Expertengremium geprüft und entsprechend mit dem Übereinkommen harmonisiert werden sollte“ (Abschnitt III, Buchst. A, Ziffern 11 und 12 der abschließenden Bemerkungen).
Anforderungen an das Bundesteilhabegesetz
- Umsetzung der UN-BRK
- Angleichung des Behindertenbegriffs
- Inklusionsprinzip muss in die Teilhabeziele des Teilhaberechts aufgenommen werden
- Alle Leistungen müssen sich an diesem Teilhabeziel orientieren
- Abschaffung der heutigen Medizinorientierung
- Inklusionsgedankte auch in Leistungsausführung: Einbeziehung der Organisationen behinderter Menschen in die Gestaltung von Gegenstand, Umfang und Qualität der Leistungen (Umsetzung von Artikel 4 Abs. 3 der UN-BRK)
- Artikel 4 Abs. 3 der UN-BRK fordert aktive Beteiligung schon bei der Entwicklung
- Artikel 9 fordert geeignetere Formen der Hilfen und Unterstützung
Kritik an gegliedertem Rechtssystem für Menschen mit Behinderung
- „Man gibt das Menschsein nicht ab, sobald man eine Behinderung hat“
- Kerngedanke des SGB IX (bei der Entstehung vor 15 Jahren) war schon, das gegliederte System für behinderte Menschen zu überwinden – leider wurde das nie so umgesetzt
- Sozial- und Leistungsrecht für behinderte Menschen muss komplett in SGB IX geregelt werden, beispielsweise:
- Hilfs- und Heilmittel aus SGB V
- Ergänzende Hilfe zur Pflege aus SGB XII
- Derzeitige Rechtsprechung gegliedert nach Sozialgesetzbüchern, übergeordnetes Recht existiert nicht
- In der juristischen Praxis beschäftigen sich die Richter nur eingeschränkt mit dem derzeitigen übergeordneten Recht (SGB IX)
- So orientiert sich z.B. der Dritte Senat des Bundessozialgerichts zum Hilfsmittelrecht hinsichtlich der Aufgabenstellung der Krankenkassen teilweise noch an Regelungen der Reichsversicherungsordnung – diese hat aber nichts mit Teilhabe sondern nur dem Heilen von Krankheiten zu tun
- Rechtsprechung versucht immer Auswege im spezifischen Recht zu finden und das ist natürlich auch den Sozialhilfeträgern bewusst
- Die Verpflichtung des § 1 Abs. 1 SGB I, Leistungen im Sinne der Sicherung eines menschenwürdigen Daseins (u.a.) zu gestalten ist bei der Wahrnehmung der Aufgaben und bei den Leistungsinhalten der Sozialversicherungszweige der Maßstab, auch wenn es um Rehabilitation und Teilhabe geht
- § 7 SGB IX regelt generelle Gültigkeit des SGB IX sofern keine trägerspezifischen Regelungen existieren
- meist gibt es keine trägerspezifischen Regelungen
- Beispiel Leistungserbringungs- und vergütungsrecht: Gutachten hat festgestellt, dass bis auf Pauschalvergütungsrecht aus SGB XII das SGB IX gilt
- „wir brauchen die Rechtszusammenfassung für behinderte Menschen im SGB IX“
Die Trägerfrage
- „Sozialhilfewelt kommt aus der Fürsorgewelt und die kommt aus dem Mittelalter“
- hat sich in den Köpfen verfestigt und wird über Generationen so bleiben
- das heißt: trotz einheitlichem Teilhabegesetz bleibt die derzeitige Einstellung in den Köpfen der Akteure der Sozialhilfe
Soziales Entschädigungsrecht als möglicher Weg aus der Fürsorgewelt
- Leistungen nach dem Sozialen Entschädigungsrecht werden vom Bund bezahlt – Länder und Kommunen führen nur aus
- Vorteil: einheitliche Rechtsanwendung, Gleichbehandlungsgrundsatz im ganzen Bundesgebiet
- Alle anderen Regelungen des Behindertenrechts werden von Kommune zu Kommune unterschiedlich ausgelegt – zum Teil je nach Kassenlage
- Hürde: Organisation der Mittelzuweisung – steigender Aufwand in den Ministerien der Länder von den dort arbeitenden Beamten befürchtet
- Regelung über Soziales Entschädigungsrecht würde zu weniger Streitverfahren und zur Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit führen
Entkopplung der Entlastung der Kommunen vom Bundesteilhabegesetz
- Bis 2012 wurde die Diskussion der Weiterentwicklung des Eingliederungshilferechts ohne eine Verknüpfung mit allgemeinen Finanzierungs- und Entlastungsfragen der Kommunen geführt – die Behindertenverbände haben sich da immer gegen gewehrt (selbst bei massivem Druck durch die Bundesregierung)
- Bei jetziger Debatte um BTHG haben die Akteure der Sozialhilfe ihr Anliegen der Ausgabendynamik und Entlastung der Kommunen mit eingebracht. Seitdem wurde überwiegend nur noch über diese Entlastung debattiert
- Entkopplung von Entlastung der Kommunen vom BTHG gut, denn nun kann endlich wieder eine Debatte um Sozialrechtsentwicklung, Teilhaberechtsentwicklung und über die Situation der Menschen geführt werden
- Jedes Sozialgesetz hat eine Kostenkomponente und die Politik muss entscheiden, ob sie diese Kostenkomponente bereitstellen will
Partizipation am Entstehungsverfahren des Bundesteilhabegesetzes
- Das SGB IX ist nur zustande gekommen, weil es vom damaligen Behindertenbeauftragten zusammen mit der Koalitionsarbeitsgruppe „Behindertenpolitik“ im Bundestag entwickelt wurde
- Losgelöst von Kostenträgerinteressen
- Rein aus der Perspektive der Behinderten
- Partizipativ mit allen Beteiligten
- Im derzeitigen Verfahren gibt es durch die BTHG-Arbeitsgruppe nur die Partizipation bezogen die von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe 2010 und 2012 definierten Interessen und Änderungsanforderungen aus der Sicht der Sozialhilfe
- Wir müssen dafür kämpfen, dass endlich die Fragen der behinderten Menschen diskutiert werden
- Nach heutigem Stand erwartet Fuchs, dass in dem Referentenentwurf im Winter nicht auch nur annähernd das steht, was von ihm oder dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen gefordert wurde.